39 Text - 2 - faust-1-faust-2-inszenierung.com

Direkt zum Seiteninhalt

Hauptmenü:

Faust 2015 > Ebene 39 Helena und Faust
39 Helena und Faust / 2
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Faust hat sich Helena bis zum äußersten Rand des Kubus genähert. In völliger Ergebenheit spricht er zu ihr.
 
Faust
So ist es mir, so ist es dir gelungen;
Vergangenheit sei hinter uns getan!
O fühle dich vom höchsten Gott entsprungen!   
 
Beide stehen sich gegenüber und zeigen pantomimisch, dass sie sich an das „Eheleben“ gewöhnt haben. Faust geht vor ihr auf und ab, bleibt etwas entfernt von ihr stehen, nimmt in seinem Sessel Platz, den er zuvor dicht an Helena herangerückt hat. Phantalis erscheint und bringt Faust eine Zeitschrift, die er zu lesen beginnt. Helena summt ein Lied vor sich hin. Phorkyas erscheint wieder in der Tür des Turmes und hockt sich auf der Brücke für das Paar unbemerkt nieder.
Die Gespräch, besser die folgenden Monologe werden gesprochen, ohne dass Helena und Faust davon Notiz nehmen. Zwei Handlungen überlagern sich.
 
Phorkyas
Wie lange Zeit die Mädchen schlafen, weiß ich nicht;
Ob sie sich träumen ließen, was ich hell und klar
Vor Augen sah, ist ebenfalls mir unbekannt.
Drum weck ich sie.
Hervor! Hervor! Und schüttelt eure Locken rasch!
Schlaf aus den Augen! Blinzt nicht so und hört mich an!
 
Der Chor der Sklavinnen spricht mal durcheinander, mal einstimmig.
 
Chor
Rede nur! Erzähl, was sich Wunderlichs begeben!
Hören möchten wir am liebsten, was wir gar nicht glauben können;
Denn wir haben lange Weile, diese Felsen anzuschaun.
 
Phorkyas
Kaum die Augen ausgerieben, Kinder, langeweilt ihr schon?
So vernehmt! In diesen Höhlen, diesen Grotten, diesen Lauben
Schutz und Schirmung war verliehen, wie idyllischem Liebespaare,
Unserm Herrn und unsrer Frauen.
 
Chor
Wie? da drinnen?
 
In die Würfelburg kommt Bewegung, Zwei benachbarte Karyatiden entfernen sich, die beiden Öffnungen im Würfel vereinen sich zu einer größeren Öffnung und eine Kinderwiege schiebt sich vor, die von mehreren Sklavinnen für ein zu erwartendes Baby eingerichtet wird.
Eine der Sklavinnen hebt das Baby in die Höhe, dass Helena es sehen kann. Helena schnalzt mit der Zunge. Sie ist stolze Mutter.
Phorkyas reagiert spöttisch auf Helenas Zunge-Schnalzen und kommentiert entsprechend. Panthyrann stimmt nach den ersten Verszeilen mit ein.
 
Phorkyas
Höret allerliebste Klänge,
Macht euch schnell von Fabeln frei!                  
Fordern wir doch höhern Zoll:
 
Panthyrann (Phorkyas)
Denn es muss von Herzen gehen,
Was auf Herzen wirken soll.
 
Chor
Bist du, fürchterliches Wesen,
Diesem Schmeichelton geneigt,
Fühlen wir, als frisch genesen,
Uns zur Tränenlust erweicht.
Lass der Sonne Glanz verschwinden,
Wenn es in der Seele tagt;
Wir im eignen Herzen finden,
Was die ganze Welt versagt.
 
Szenenbild 06
Ein kleines Kind klettert auf den Kuben der Würfelburg herum, hüpft von einem Kubus zum anderen hinüber, kommt hüpfend auf Helena zu.  Helena sieht das auf sie zuspringende Kind, macht eine Bewegung mit ihrem Oberkörper, als würde sie es auffangen wollen, aber wie schon einmal bei einer intensiveren Annäherung Fausts an Helena schwebt die Mondscheibe mit ihr zurück und entfernt sich vom Würfel. Das Kind kann seinen Sprung stoppen. Helena sieht entsetzt die Gefahr und aus dem liebevollen Glanz ihres Ausdruckes wird für einen Moment Entsetzen.
Chor
Welche Märchen spinnst du ab!
 
Phorkyas
Doch auf einmal ein Gelächter echot in den Höhlenräumen;
Schau ich hin, da springt ein Knabe von der Frauen Schoß zum Manne,
Von dem Vater zu der Mutter! Das Gekose, das Getändel,
Töriger Liebe Neckereien, Scherzgeschrei und Lustgejauchze
Wechselnd übertäuben mich.
Nackt, ein Genius ohne Flügel,
Springt er auf den festen Boden; doch der Boden gegenwirkend,
Schnellt ihn zu der luftg`en Höhe, und im zweiten, dritten Sprunge
Rührt er an das Hochgewölb.
Ängstlich ruft die Mutter: „Springe wiederholt und nach Belieben,
Aber hüte dich zu fliegen! Freier Flug ist dir versagt.“
Doch auf einmal in der Spalte rauer Schlucht ist er verschwunden,
Und nun scheint er uns verloren. Mutter jammert, Vater tröstet,
Doch nun wieder welch Erscheinen!
In der Hand die gold`ne Leier, völlig wie ein kleiner Phöbus,
Tritt er wohlgemut zur Kante, zu dem Überhang; wir staunen.
 
Die Beleuchtung reduziert sich fast bis zu Dunkelheit, wird wieder hell usw. Die Hell-Dunkelphasen werden immer kürzer. Es kommt für einige Sekunden zum Vibrieren des Lichtes. Die Realzeit, die bis zum Erwachsenwerden des Sohnes vergeht, wird damit symbolisiert. Wie eine Uhr, deren Feder zerbrach und deren freigewordene Kraft die Zeiger in rasende Geschwindigkeit versetzt, wird der Fortgang der Geschichte in eine spätere Zeit verlagert.
Im Halbdunkel läuft Phorkyas über die Brücke zu Helena, um ihr den Umhang Margarethes umzuhängen. Eine neue Zeit wird  damit definiert. Die  Zeit vergeht weiter. Licht und Dunkel wechseln einander ab.
Der Sohn Euphorion ist zum Jüngling gereift, schön und kräftig kommt er auf der Treppe aus dem Inneren des Würfels auf die Plattform.
Er hat ein Musikinstrument in den Händen und versucht, diesem einige Töne zu entlocken. Es erklingt das sich später wiederholende Gretchenmotiv (Una Poenitentum) der Takte 1103 – 1129 aus der 8. Sinfonie von G. Mahler. 
Faust sitzt schläfrig auf seinem Sessel.
Phorkyas-Mephistopheles hockt am Ende der Brücke. Euphorion setzt sich als drittes Familienmitglied, eine optische Dreieckbeziehung bildend, beiden Eltern gegenüber auf den Boden, mit dem Rücken zum Publikum, und hantiert an seinem Musikinstrument. Alle, selbst Phorkyas und Panthyrann, scheinen das Familienidyll zu genießen.
Euphorion erhebt sich und bewegt sich erst tänzerisch zu seinen musikalischen Versuchen auf dem Instrument, dann in ein Hüpfspiel übergehend und spricht im Takt zu seinem Hüpfen und Springen mit pubertärer Albernheit die beiden folgenden Zeilen:
 
Euphorion
Seht ihr mich im Takte springen,
Hüpft euch elterlich das Herz.
 
Helena
Liebe, menschlich zu beglücken,
Nähert sie ein edles Zwei;                                  
Doch zu göttlichem Entzücken
Bildet sie ein köstlich Drei.
 
Faust
Ich bin dein, und du bist mein;
Und so stehen wir verbunden,
Dürft es doch nicht anders sein!                         
 
Chor
Wohlgefallen vieler Jahre
O wie rührt mich der Verein!
 
Helena und Faust sehen sich an, können sich das Lachen nicht verbergen und prusten es ungeniert heraus. Nachdem sie sich beruhigt haben, kommentieren sie mit ihrem Gespräch ihre glücklich verlaufende Dreierbeziehung. Sie scheinen höchst zufrieden, sind ausgeglichen und erfreuen sich an dem lustigen, vor Mut und Kraft kaum zu zügelnden Spiel ihres Sohnes. Helena klingen dessen alberne Worte noch immer in den Ohren, so dass sie Euphorions Bemerkungen nur unter der Begleitung kleiner Lachsalven anhören kann.
 
Euphorion
Nun lasst mich hüpfen,                                                        
Nun lasst mich springen!
Zu allen Lüften
Hinaufzudringen,
Ist mir Begierde;
Sie fasst mich schon.
 
Faust
Nur mäßig! Mäßig!
Nicht ins Verwegne,
Dass Sturz und Unfall
Dir nicht begegne,
Zugrund uns richte
Der teure Sohn!
 
Euphorion
Ich will nicht länger
Am Boden stocken;
Lasst meine Hände,
Lasst meine Locken,
Lasst meine Kleider!
Sie sind ja mein.
 
Helena
O denk! O denke,
Wem du gehörest!
Wie es uns kränke,
Wie du zerstörest
Das schön errungene
Mein, Dein und Sein.
 
Chor
Bald löst, ich fürchte,
Sich der Verein!
 
Euphorion ist in seinen Bewegungen wilder geworden. Er macht höhere und längere Sprünge. Er wird immer ausgelassener und sein jugendlicher Übermut durchbricht alle Grenzen, auch die der physikalischen Gesetze.
Die Bühne beginnt sich zu verändern. Es wird Nacht. Nur noch Helena, Faust und Euphorion werden beleuchtet. Eine erst klein scheinende, dann aber anwachsende Mondscheibe entsteht auf dem nächtlich dunklen Horizontvorhang. Das Gesicht Helenas bleibt nach wie vor als vergrößertes Duplikat auf der Mondfläche hinter ihr abgebildet. Diese Fläche erweist sich jetzt als ein halbtransparenter Gazevorhang, so dass die Sprünge Euphorions und das Gesicht Helenas ineinander übergehen.
Durch ein elastisches Seil ist es Euphorion möglich, immer höher zu springen, so dass er die Mondscheibe zu berühren scheint. In den Mond kommt Eigenleben. Er hat die Berührung des verwegenen Jünglings wahrgenommen und beginnt zur Antwort ebenfalls mit Bewegungen. Erst sehr träge, aber als ob auch er Spaß an diesem Spiel entwickelt, ergibt sich ein gemeinsames Springen. Wilde an Akrobatik grenzende Kapriolen machen Mond und Jüngling. In der Szene "45 Margarethes letzter Traum" wird es vergleichbare Situationen geben. Helena steht mit dem Rücken zu diesem Toben, aber ihr Mienenspiel lässt erkennen, dass sie das gefährliche Spiel sehr wohl wahrnimmt.
Die Eltern fühlen sich im Bändigen der jugendlichen Kraft machtlos und wissen sich keinen Rat mehr. Sie sprechen durcheinander sehr aufgeregt, da sie das Schlimmste befürchten müssen. So wild war er Bengel noch nie. Was soll das in Zukunft werden?
Panthyrann im Untergrund verstärkt die Verse zusätzlich.
 
Helena und Faust
Bändige! bändige
Eltern zuliebe,
Überlebendige,
Heftige Triebe!
 
Euphorion gehorcht dieses Mal wider Erwarten den Eltern und lässt seine Sprungamplituden niedriger werden, um nach kurzer Zeit des Ausklingens zu den Eltern zu kommen. Er gibt seinem Vater im Vorübergehen einen flüchtigen Kuss auf den Kopf und springt zur Mutter und deutet eine zärtliche Umarmung an. Helena atmet sichtlich erleichtert auf, neigt ihren Kopf zu dem des Sohnes herunter als möchte sie ihm einen  Kuss geben. Die Familie ist wieder in Eintracht beisammen.
Der Mond hat sich in gleichem Maße beruhigt, steht still an seinem Platz und versinkt schwächer werdend im Graublau des Himmels. Euphorion entfernt sich von der Mutter und geht auf das liegengebliebene  Musikinstrument zu und widmet sich wieder dem Erforschen der Töne. (Wieder das Gretchenmotiv). Nebenbei bemerkt er:
 
Euphorion
Nur euch zu Willen
Halt ich mich an.
 
Die Eltern sind zufrieden, beruhigt, den Übermütigen wieder sicher bei sich zu haben und mit einem kleinen Seufzer der Zufriedenheit, aber in der Gewissheit, dass vermutlich noch weitaus Schlimmeres auf sie zukommen wird, kehrt wieder Ruhe in sie ein.
Euphorion erhebt sich und läuft auf die Brücke, um in der Gruppe der Karyatiden ein bestimmtes Mädchen zu suchen. Zu Helena gewandt ruft er wieder provokatorisch alberne Verse hinüber.
 
Euphorion
Ist nun die Melodie,
Ist die Bewegung recht?
 
Helena
Ja, das ist wohlgetan!
 
Faust
Wäre das doch vorbei!
Mich kann die Gaukelei
Gar nicht erfreun.
 
Das Mädchen, das Euphorion im Auge hat, beginnt sich tänzerisch zu bewegen und animiert Euphorion. Der Chor der Dienerinnen singt dazu, den Sohn umschmeichelnd. (Wieder die o.g. Melodie)
Euphorion macht von der Brücke aus einen gewagten Sprung hinab zu der Nische, in der das Mädchen tanzt, ergreift sie und springt mit ihr zurück auf die Brücke. Helena und Faust stockt der Atem. Musik und Tanz setzen aus. Faust springt zornig auf. Verzweifelt kommentieren Helena und Faust in einer Wechselrede:
 
Helena und Faust
Welch ein Mutwill! Welch ein Rasen!                         
Keine Mäßigung ist zu hoffen.
Welch ein Unfug! Welch Geschrei!
 
 
Euphorion zwingt das Mädchen mit Gewalt auf den Boden und wirft sich über sie. Ihre Arme hat er an den Handgelenken gefasst und drückt sie damit auf den Rücken. Sie schlägt mit den Füßen um sich und wehrt sich wild unter dem festen Griff des Jünglings. Während der Kraftanstrengungen stößt er seinen Kommentar heraus.
 
Euphorion
Schlepp ich her die derbe Kleine
Zu erzwungenem Genusse;
Mir zur Wonne, mir zur Lust
Drück ich widerspenstige Brust,
Küss ich widerwärtigen Mund.        
 
Mädchen
Lass mich los! 
 
Dem Mädchen gelingt es, Euphorion mit dem linken Bein zur Seite zu stoßen, macht sich geschickt los von seinem Griff. Er taumelt gefährlich  zur Seite, während das Mädchen rasch aufsteht und auf die Brücke flüchtet. Sie ruft außer Atem:
 
Mädchen
Deinem Arm vertraust du viel!
Halte fest, und ich versenge dich.
 
Euphorion setzt sich wieder auf und ist erstaunt, dass er das Mädchen mit seinen starken Armen nicht halten konnte, dass sie geschickter war als er. Ein Moment vergeht, bevor er ihr nachlaufen kann. Das Mädchen wendet sich um und ruft ihrem Verfolger verführerisch anmutig zu.
 
Mädchen
Folge mir in leichte Lüfte,
Folge mir in starre Grüfte,
Hasche das verschwund`ne Ziel!
 
Die Bühne verdunkelt sich schlagartig. Nur Euphorion ist noch schwach beleuchtet. Einige Sekunden später erscheint der Mond, mit dem vor kurzem Euphorion gespielt hat, wieder am schwarzen Himmel. Auf der Mondfläche bildet sich das Bild Margarethes.
Aus weiter dunkler Ferne kommt die Mondscheibe näher und vergrößert sich, geht mitunter in die Projektionsfläche Helenas über, vermischt sich mit dieser, löst sie ab. Das Mädchen hat sich in Margarethe verwandelt. Ein sehr jugendliches und ein reiferes Bild Margarethes vermischen sich miteinander. Während Helena die Erscheinung nicht beobachten kann, schaut Faust gebannt, hypnotisiert das echte Bild Margarethes an. Er presst verzweifelt die Hände an die Schläfen.
Ihr kindliches Gesicht, unschuldig schön, lächelt Euphorion (oder Faust?) entgegen. Die Mondscheibe steuert auf die wieder schemenhaft sichtbare Brücke zu und das Mädchen geht sehr langsam, am ganzen Körper zitternd zurück in Richtung Plattform. Auch Euphorion ist gebannt von der Erscheinung und bleibt regungslos einige Meter neben Faust stehen. Helena beobachtet Faust und ihren Sohn und kann nur an ihren Reaktionen ablesen, dass sich schwerwiegende Ereignisse in ihrer Umgebung abspielen.
Das Mädchen nähert sich Helena. Sie steht vor Kälte zitternd in der Mitte der Plattform. (Die Assoziation zur Szene in „24 Dom“ ist offensichtlich.) Euphorion wacht aus seiner Benommenheit auf, springt zu Helena. Jetzt kommt es das erste Mal zu einer Art Körperkontakt zwischen Helena und Euphorion. Die Scheibe mit Helena, die sich sonst bei Annäherungen Fausts oder Euphorions entfernte,  nähert sich dem Sohn. Ein einziger kleiner Blick reicht zur Bitte und Zustimmung und der Sohn streift seiner Mutter die Kapuze vom Kopf, nimmt ihr ebenso vorsichtig den Umhang von den Schultern, springt zu Margarethe, hüllt sie in das wärmende Tuch ein.
Dankbar lächelnd nimmt das Mädchen die Fürsorge an und sucht den Blick Helenas. Beide Frauen lächeln sich zu.
Unbemerkt für die Zuschauer hat sich der Turm des Lynceus von der Brücke entfernt und ist im Dunkel der Nacht verschwunden. Nur die Türöffnung ist noch sichtbar. Die Brücke endet im Nichts.
Phorkyas steht in der Türöffnung des Turmes, partiell angestrahlt. Sie klatscht in die Hände und die bekannten Henkersgehilfen springen die Treppe im Würfel herauf, stellen sich zwischen Margarethe und Euphorion. Faust steht dicht bei Helena. Margarethe weicht zurück in Richtung Brücke. Euphorion will ihr folgen, wird von zwei der Gestalten, die ihm nicht einmal bis zum Ellenbogen reichen, festgehalten. Der letzte Henkersgehilfe treibt das das Mädchen weiter auf die Brücke. Bevor sie das Ende der Brücke erreicht, schiebt sich eine große bizarre Glasscheibe in die Höhe. Der Henkersgehilfe stößt das Mädchen an die Glasscheibe. Dabei reißt er ihr den Umhang vom Körper. Euphorion kämpft gegen die beiden Henkersgehilfen an, hat aber keine Kraft, sich los zu reißen.
Das Mädchen prallt gegen die Scheibe. Eine riesige Stichflamme leuchtet auf und das Mädchen verschwindet. Helena stößt einen stummen Schrei aus. Ihr Kopf hängt wie leblos auf ihrer Brust.
Der Henkersgehilfe auf der Brücke nimmt den Umhang, knüllt daraus ein Knäuel und wirft es Faust vor die Füße.
Phorkyas reibt sich die Hände vor Vergnügen und verschwindet im Dunkel.
Euphorion macht verzweifelte Gebärden über den Verlust seiner soeben geborenen und sofort gestorbenen ersten Liebe. Er beginnt, wieder, wüste Sprünge zu machen, um seiner Wut und Verzweiflung Ausdruck zu geben. Er vollführt ein wildes Spektakel, haut mit den Fäusten an die Kuben, springt höher und höher. Seine Verzweiflung ist grenzenlos. Die Eltern sind entsetzt - aber machtlos. Euphorion, während er an den Eltern vorbeispringt, ruft voller Verzweiflung:
 
Euphorion
Immer höher muss ich steigen,
Immer weiter muss ich schaun!
 
Wieder fliegt Euphorion vorbei. Während des letzten Fluges hat er sich verwandelt. Er hat einen Kriegerhelm auf, in der einen Hand schwenkt er eine Gasmaske, in der anderen ein Maschinengewehr. Er ist entschlossen, seine Verzweiflung in Kriegslüsternheit zu ertränken. Die ganze Welt möchte er verantwortlich machen für das Leid, das ihm angetan wurde. In dieser Verkleidung werden seine wüsten Sprünge noch lauter und gefährlicher.
 
Euphorion
Träumt ihr den Friedenstag?
Träume, wer träumen mag!
Krieg ist das Losungswort!                                
Sieg! Und so klingt es fort.
 
Chor
Wer im Frieden
Wünschet sich Krieg zurück.
 
Die nächsten Verse kommen aus allen Richtungen, auch aus dem Zuschauerraum, da Euphorion überall zu sein scheint.
 
Euphorion
Nein, nicht ein Kind bin ich erschienen:
In Waffen kommt der Jüngling an!
Nun fort!
Nun dort!
 
Helena und Faust
Sind denn wir
Gar nichts dir?
Ist der holde Bund ein Traum?
 
Euphorion
Der Tod
Ist Gebot;
 
Helena, Faust und Chor
Welch Entsetzen! Welches Grauen!
Ist der Tod denn dir Gebot?
 
Euphorion
Sollt ich aus der Ferne schauen?
Nein, ich teile Sorg und Not!
 
Helena, Faust und Chor
Übermut und Gefahr,
Tödliches Los!
 
Euphorion
Ich muss! Ich muss!
Gönnt mir den Flug!
 
Chor
Ikarus! Ikarus!
Jammer genug!
 
Szenenbild 07
Die Bühne ist dunkel. Tief unten hallt der Aufprall des Euphorion auf den Felsen zurück. Im gesamten Theater klingt der Ruf des Sohnes mit Nachhall verstärkt.
Euphorion
Lass mich im düstern Reich,
Mutter, mich nicht allein!
 
Helena gerät wieder ins Scheinwerferlicht. Sie windet sich entsetzt in ihren Binden, schließt verkrampft die Augen.
Sie lässt sich auf die Plattform gleiten. Faust springt zu ihr, um sie aufzufangen. Im Herabgleiten hat er ihren Kopf gestreift und hält plötzlich den gesamten Schopf ihrer langen schwarzen Haaren in den Händen. Blonde schöne Haare entfalten sich unter der abgestreiften Perücke. Völlig entsetzt muss Faust erkennen, dass eine Verwandlung mit Helena vor sich gegangen ist. Wieder sieht er Margarethe vor sich, bereit, sich in die Tiefe zu stürzen.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Zurück zum Seiteninhalt | Zurück zum Hauptmenü