Im „Faust II“ verliert
Mephistopheles die Seele Fausts durch eigenes Verschulden. Der Anblick
„aufreizend schöner“ Jünglinge lassen ihn die umkämpfte Seele vergessen.
Dadurch wird „Gott, der Herr“ zum Sieger und mit ihm die Christliche
Mythologie. Das kommt in den „Bergschluchten“ deutlich zum Ausdruck.
„Wer immer strebend sich
bemüht, den können wir erlösen", singen die Engel (kursivgedruckt im
Originaltext) in den „Bergschluchten“.
Dieser Satz erfordert
Widerspruch, denn diese „Erlösung“ soll doch das Höchste sein, was ein Mensch
erstrebt. Kann ein „Bemühen“ so hoch angesetzt werden, dass es für dieses
„Letzte“ ausreicht?
Im „Faust II“ haben weder
die unterschiedlichsten Engel noch die Himmelskönigin, die Mater Gloriosa, die Macht,
Fausts Seele in Empfang zu nehmen. Diese Himmelskönigin schickt die Seele
Margarethes zum Empfang des einst Geliebten. Warum eine „Himmelskönigin“ und
nicht „Gott, der Herr“ persönlich, da es doch schließlich um seine
höchstpersönliche Wette geht? Wird der Himmel Goethes von einer Königin
beherrscht – und das in der vom Patriarchat gekennzeichneten christlichen
Religion?
Den beiden Wettbrüder Mephistopheles
und Panthyrann wird im „Faust 2015“ ein kleines Ereignis zum Verhängnis, das das
Wettergebnis entscheidend beeinflusst. Wenige Minuten vor dem Lebensende erfährt
Faust das, was das Wesen der Mater Agape ausmacht. Er empfindet tiefste
Ergriffenheit beim Trösten eines kleinen Kindes, das sich wegen einer
Nichtigkeit hilfesuchend an ihn schmiegt. Dieses kleine Ereignis durchkreuzt
den Regieplan der beiden Regisseure Mephistopheles und Panthyrann und damit das
von ihnen geplante Ende ihrer Inszenierung. Wer die spielenden Kinder auf den
Kriegerfriedhof geschickt hat, ob geplant oder zufällig, darf und soll offen
bleiben. Während des gesamten „Faust 2015“ wird der Mater Agape niemals ein
direktes Eingreifen in die Handlung zugestanden – also soll es eher Zufall sein,
dass Mephistopheles und Panthyrann spielende Kinder ins Gehege kommen und die
Handlung in eine völlig neue, aber durchaus positive und logische Richtung
lenken. Beide müssen sich am Ende als Verlierer präsentieren und die Seele
Fausts einer Macht überlassen, die außerhalb ihres Einflussbereiches steht.
Die Erlösungsformel liegt
in den letzten acht Verszeilen des “Faust II“, insbesondere in den beiden
letzten. Es ist die Macht der Liebe, die den Tod symbolisch besiegen kann. Auch
in der Bibel heißt es, dass Liebe stark wie der Tod ist. Spätestens hier kann
die tiefe Bedeutung der Gestalt „Mater Agape“ erkannt werden.
Der Begriff „Agape“ steht
für Nächstenliebe - Eros für erotische Liebe. Auch die platonische Liebe wird
im „Faust 2014“ thematisiert (Helena-Szenen).
Margarethe ist an ihrer
wahren und ehrlichen Liebe zu Faust zerbrochen und hat symbolisch den Tod
überwunden und ist „erlöst“ in einen Himmel eingegangen. Sie ist in diesem
Himmel diejenige Seele, die ihrem zu Lebzeiten geliebten Menschen die Hand zur
Vergebung reichen, diese geliebte Seele „hinan ziehen“ kann. Sie verkörpert in
tiefster Symbolik alles, was Weiblichkeit kennzeichnet.
Ob Faust diese „Ehre“
wirklich verdient, wird von ihr nicht hinterfragt. Im gesamten „Faust I/II“
wird diese Frage nie gestellt!