„Gretchen“ ist im „Faust I“
entsprechend ihres Alters und dem kleinbürgerlichen Milieu des 18./19.
Jahrhunderts als kindlich naiv, unschuldig, gottesfürchtig, unvoreingenommen
gegenüber allem Hässlichen auf dieser Erde zu charakterisieren. Aus dieser
Kindlichkeit wird sie heraus gerissen durch die Bekanntschaft mit einem Mann
höheren Standes, der sie hofiert, ihr Komplimente und wertvolle Geschenke
macht. Leichtgläubig lässt sie sich von diesem Mann umgarnen und gibt sich
seiner kaum ehrlich zu nennenden Leidenschaft hin mit allen Konsequenzen. Sie
wird von ihm ins Verderben gestürzt,
tötet verzweifelt das gemeinsame Kind und wird für dieses Verbrechen
hingerichtet.
Diese Fakten werden im
„Faust 2015“ übernommen. Aber fast zu Beginn der Inszenierung wird dieses Gretchen
bereits mit dem Ziel in die Handlung eingeführt, sie als große Frauengestalt
vom „Osterspaziergang“ bis zu den letzten zwei Verszeilen der „Bergschluchten“
präsent sein zu lassen.
Zu diesem Charakterbild
will die Verniedlichung des Namens Margarethe nicht passen. Aus diesem Grund
wird sie im „Faust 2015“ generell unter dem ausführlichen Namen auftreten.
Margarethe ist nicht ein
naives Kind, sondern besitzt einen bemerkenswerten Bildungsgrad, Sie liest und
zitiert den Text des „Faust I“, erkennt sich
erschrocken in dieser Frau und ist sich der Rolle in dieser (ihrer!)
Tragödie voll bewusst - ebenso bewusst wie in der heutigen Zeit unzählige
Frauen, die trotz ihres ahnungsvollen Wissens um den Betrug, dem sie sich
aussetzen, am Ende zugrunde gehen. Margarethe gibt sich Faust hin, verehrt ihn,
vergöttert ihn, liebt ihn dankbar ohne ihre und seine Zukunft, am wenigsten
eine gemeinsame zu hinterfragen. Sie erkennt allerdings in seinem Gefährten den
Schurken, den Verführer, den Gottlosen, ist aber machtlos, sich dem entgegen zu
setzen.
Leider erwähnt Goethe mit
keinem Vers die Leiden Margarethes während ihrer Schwangerschaft. Die Szene „Am
Brunnen“ ist ein winziger Hinweis darauf. Ist es vorstellbar, dass eine Frau
nicht zugrunde gehen muss, wenn sie derart hintergangen und verlassen wird und
zu diesem Unglück noch den nachweislich mitverschuldete Tod der Mutter ertragen
muss – und wenig später den Mord am Bruder miterleben muss, der nur ihretwegen
geschehen ist. Dazu kommt die unvorstellbare Isolation, in die sie durch die
kleinbürgerliche Engstirnigkeit getrieben wird. Dass für Margarethe der eigene
Tod und der des Kindes „die“ Erlösung bedeuten musste, ist nur allzu
verständlich.
Die Kerkerszene des „Faust
I“ wird im „Faust 2015“ unter dem Titel „Todeszelle“ inszeniert. Als Faust zu
ihr in den Kerker kommt, um sie zu retten, wird sie sich endgültig der Verlogenheit,
die sich unter dem Deckmantel von Kirche, Glaube, Moral und Gesetz verbirgt, bewusst.
Sie kapituliert und wendet sich mit klarstem Verstand von Faust ab, kann ihn
aber nicht hassen. Hass erzeugt in ihr das Erscheinen seines Gefährten
Mephistopheles. Sie nimmt verantwortungsvoll und selbstanklagend alle Schuld
auf sich und wächst damit zu humanistischer Größe.
Faust hat Margarethe
schändlich betrogen, hat sich schnell skrupel- und reuelos von ihr abgewendet.
Das ist der Grund, weshalb die mit Faust spielenden Mächte Mephistopheles und
Panthyrann ihn von dieser Frauengestalt nicht loskommen lassen. Im „Faust 2015“
werden die wichtigen Frauengestalten von der Margarethe-Darstellerin gespielt.
Sie trifft „Vor dem Tor“ als Spaziergängerin auf den alten Faust, sie erscheint
ihm im OP-Saal der Schönheitschirurgie („Hexenküche“), ist Helena und wird am
Ende als Symbol des „EWIG WEIBLICHEN“
die Aufführung beschließen.
Im Original des „Faust II“ wird Faust von
Mephistopheles zu den „Müttern“ geschickt, um den Wunsch eines Kaisers zu
erfüllen, die lebendige Helena herbei zu zaubern. Die Begegnung mit diesen
„Müttern“ wird im Original nicht eschrieben.
Nicht grundlos schickt im „Faust
2015“ Mephistopheles den verantwortungslosen Verführer zu einer Frauengestalt -
einer „Mutter“, die ihr totes Kind auf dem Arm hält. In einem Intermezzo soll
Faust in einem seiner Komaträume die einsamste aller Einsamkeiten auf einem sich
in weiteste Fernen ausstreckenden Soldatenfriedhof erkennen. Das Mahnmal für
die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft „Mutter mit totem Sohn“ von Käthe
Kollwitz, das in der Neuen Wache in Berlin steht, erschein vor ihm in
gewaltiger Größe. Die Einsamkeit, die diese Mutter in ihrem Schmer erleidet,
kann jedoch ein Mensch wie Faust nicht begreifen. Das wird eine der großen
Erkenntnisse des Mephistopheles und Panthyranns sein.
Auch nachdem in diese
Skulptur das Bildnis Margarethes hinein projiziert wird,
überkommt Faust zwar das
große Schaudern und eine Gänsehaut wird sich auf seinem Körper breitmachen, aber
der Drang, Neues in der Bekanntschaft Helenas zu erleben, verdrängt alle Erinnerung
an das Mädchen Margarethe, auch wenn er später, verbunden mit Helena, stets an
Margarethe erinnert wird.
Die Traumszenen, die über die
Klassische Walpurgisnacht bis hin zum Todes des gemeinsamen Sohne Euphorion und
dem Suizid Helenas führen, sind von Mephistopheles und Panthyrann genauestens
geplant, auch wenn am Ende die ganze Traumaufregung nicht ausreicht, um Faust
aus dem Koma erwachen zu lassen.
Als Paar ohne jedes
libidöses Verlangen schweben Helena und Faust geisterhaft in phantastischer
Umgebung der griechischen Mythologie und leben eine Gemeinsamkeit voller
schwärmerischer, sich bewundernder Hingabe. Sie genießen ein Glück ohne jedes
sexuelle Zusammensein. (Platon wird aus geheimem Winkel voller Freude
zugeschaut haben!) In ihren Vorstellungen zeugen sie einen Sohn, lieben,
umsorgen und verehren ihn. Leichtsinnig stürzt sich dieser Sohn zu Tode und die
Mutter Helena folgt dem Sohn in den Tod.
Diese Szene wird zur Metapher
für den späteren, allerdings missglückten Freitod Margarethes.