„Faust I/II“ trägt den Untertitel „Der
Tragödie erster bzw. zweiter Teil“. Die allgemeine Definition des Begriffes
„Tragödie“ besagt, dass der Held im Konflikt am Ende unterliegt. Die Frage muss
gestattet sein, wer denn im „Faust I/II“ der eigentliche Held ist.
Dr. Faust ist
Wissenschaftler, Forscher, wissensdurstig bis zur Skrupellosigkeit. Seine
Bücher, seine Wissenschaft bedeuten ihm mehr als alles Leben außerhalb seiner
Studierstube bzw. seines Forschungslabors. Erst die Bekanntschaft
Mephistopheles` öffnet ihm nach langen Jahren des Insichgekehrtseins eine Sicht
auf das wahre Leben, das außerhalb seiner Wissenschaft pulsiert. Faust ist
bereit, sich mit Hilfe des teuflischen Freundes in dieses Leben zu stürzen mit
der Bereitschaft, keinen Augenblick wahrhaft und dauerhaft zu genießen. Sollte
er doch, so sei es um ihn geschehen, heißt es im Pakt mit Mephistopheles. Faust
unterwirft sich einerseits der Lenkung Mephistoheles`, verzichtet aber
keineswegs auf eigenen Willen, auf eigene Meinung. Ganz im Gegenteil: er macht
dem Freund bitterste Vorwürfe, wenn der seine Wünsche nicht bereitwillig
erfüllen will. Er verlangt, dass ihm das Gretchen „noch heute“ ins Bett gelegt
wird oder er verlangt das unverzügliche Herbeischaffen der antiken Helena –
aber lebendig. Skrupellos geht er auf das Ziel los – und Mephistopheles lacht
sich ins Fäustchen.
Es bedarf keiner langen
Zeit und für Faust wird die angebliche Liebe zu Margarethe zur Pflichtübung,
die sich als solche in der Kerkerszene nur bestätigt. Rational gesehen ist
seine Haltung sogar verständlich, denn was soll dieser vorwärts strebende Geist
mit einem Mädchen, dessen Verstand scheinbar gelitten hat und das vor dem
Gesetz zur Kriminellen geworden ist. Über seinen eigenen Part an diesem
Schicksal will und kann er nicht nachdenken. Während er nicht zum geringsten
Schuldeingeständnis fähig ist, erhebt sie sich weit über ihn.
Faust hat nie gelernt hat,
zu lieben, hat nie gelernt, Verantwortung oder Rücksichten gegenüber anderen
Menschen zu übernehmen. Er ist der skrupelloseste Ich-Mensch, der zwar
tiefschürfend und wortgewaltig nach dem Sinn des Lebens sucht, nach dem, was
„die Welt zusammen hält“, aber das Einfachste -
die Liebe – übersieht er, auch wenn er am Ende als alter gelehrter
Philosoph um die Liebe ebenso wie über den Kosmos oder alle Facetten der Naturwissenschaften
bestens Bescheid weiß.
Er hinterlässt aber stets
den Eindruck von Unehrlichkeit, wenn er lauthals und mit pathetischem Wortschwall
seine Liebe zu Margarethe nachweisen will.
Im „Faust 2015“ wird Faust
von den Regisseuren Mephistopheles und Panthyrann als ein Mensch
charakterisiert, der sich im Verhältnis zum anderen Geschlecht als asozial
zeigt. Er ist einer wahren Liebe unfähig, predigt wortgewaltig Theorien und versagt
jämmerlich in der Praxis.
Mephstopheles erinnert
Faust drohend an ihren gemeinsamen Vertrag („Du darfst mir`s nicht im Ernste
sagen …“). Würde Faust seine „angebetete“ Margarethe wahrhaft lieben, könnte er
diese Liebe nicht dem Vertragsinhalt unterordnen.
Sein Charakter ist mies
aber nicht frei von Emotionalität. Er ist wahrer aufopferungsvoller und
uneigennütziger Liebe nicht fähig.
Im „Faust 2015“ erkennen
Mephistopheles und Panthyrann diese Liebesunfähigkeit Fausts und spielen das
aus, indem sie ihn im realen wie im irrealen Leben, permanent reizen, indem sie
ihm das Bild Margarethes wie eine ewige Mahnung vor Augen halten. Wie in der
„Hexenküche“ prophezeit, soll er in jeder Frau Helena bzw. Margarethe sehen.
Faust schildert seinem
Famulus Wagner während des Osterspazierganges, also noch vor dem Erscheinen des
Mephistopheles, seine Vergangenheit als menschenverachtend, betrügerisch,
mörderisch und gefühllos. Er ist bereit zu einem solchen Schuldeingeständnis –
aber er reflektiert diese Vergangenheit nicht anders als jede andere kleinste Episode
seines Lebens. Wenige Minuten zuvor spricht er die bekannten Verse des
Osterspazierganges, die voller Lebensweisheit sind. Was für Widersprüche!
Diese „Vorgeschichte“
seines Lebens erklärt seine unbändige, lediglich fleischliche Lust auf das unschuldige
und unerfahrene Mädchen, erklärt seine Skrupellosigkeit, seinen Mangel an Fein-
und Mitgefühl. Er ist der größten „Worte“ fähig – er kann sich seitenweise im
selbstgefälligen Deklamieren ergehen, aber es bleiben bezogen auf seinen wahren
Charakter nichts als leere Worte.
Doch zurück zum
Ausgangspunkt der Überlegung: Die einzige „Dramatik“ in Fausts Leben ist die,
dass er das, was die Welt zusammenhält, nie begriffen hat. Wenn einem
derartigen Geist am Ende nur mit der Begründung eine himmlische Erleuchtung
oder Erlösung zuteilwird, weil er sich stets strebend bemüht hat, müssten die
erkenntnishungrigen Wissenschaftler, die skrupellosen Politiker, Diktatoren
usw. millionenfach vor der Himmelspforte mit der Gewissheit, Einlass zu
erhalten, Schlange stehen. Die Wissenschaftler und Nobelpreisträger, die unter
anderem an der Entwicklung der Atombombe oder chemischen Kampfstoffen aktiv
beteiligt waren (und noch sind) haben wenigstens noch eine Familie, Frau und
Kinder, die sie umsorgen und lieben. Ein Faust hat nicht einmal das
vorzuweisen.
Kurz vor seinem Ende
bekennt er der „Sorge“, nur durch das Leben gerannt zu sein. Er ist sich also zeitlebens
seines miesen Charakters bewusst gewesen, aber ohne Konsequenzen daraus zu
ziehen. Selbst diese „Sorge“ stößt er als für ihn inkompetent zurück.
Jemand, der sich sein Leben
lang verantwortungslos, menschenverachtend und gleichgültig gibt, ist nicht
fähig, vor Kummer, Wut und Zorn „Staub zu fressen“.
Auch im „Faust 2015“ soll
ihm, schließlich ist das durch den Originaltext vorgegeben, „Erlösung“
zuteilwerden. Das Fazit seines Lebens verbietet eine derartige „Erlösung“, die
einem großen „Verzeihen“ gleichgestellt werden müsste. Eine, bezogen auf den
überdimensionalen Ereignisumfang des Fauststoffes, winzig kleine Brücke wird
ihm gebaut, über die er zu einer wahren menschlichen Regung gelangen kann – der
Tröstung eines kleinen Kindes.
Um auf den Ausganspunkt der
Überlegung zurück zu kommen, wird Faust die „dramatische“ Gestalt verweigert
und statt dessen Margarethe zugesprochen.