Panthyrann zeichnet
verantwortlich für die Themenwahl des letzten Versuches.
Ein matter gedämpfter
Glockenklang aus weiter Ferne des Bühnenhintergrundes. Der Ton vervielfältigt
sich, wechselt seine Richtung, kommt aus allen Richtungen in den Zuschauerraum
bzw. aus ihm heraus. Hier helfen die unter den Zuschauersitzen installierten
Lautsprecher. Der Glockenklang steht langsam verhallend im Raum, verschwindet
in eine nachtönende Stille.
Mephistopheles blickt auf,
nicht erschrocken aber furchtbare Ereignisse ahnend. Er steigt die ersten
Stufen der Treppe, die vom Krankenzimmer zur Bühne führt, empor und blickt in
das undurchdringliche Grau. Die Glocke ertönt aufs Neue, lauter, bestimmender.
Er streicht sich über die
Stirn, als müsste er einen aus allen Poren und Haarwurzeln hervorquellenden
kalten Schweiß abwischen. Seine Mimik lässt aufkommende Scham erkennen.
Im Mittelpunkt der
Projektionsleinwand entwickeln sich Bilder, die größer werden und damit den Eindruck
vermitteln, dass sich das Theaterpublikum innerhalb weniger Sekunden in die
gezeigten Bilder hineinbewegt. Eine Stadt kommt näher. In ihr lebt, brodelt und
gärt es. Menschen hasten durch Straßen. Stadtgeräusche, Kreischen bremsender
Fahrzeuge, Lautsprecheransagen, das Getöse fahrender Eisenbahnen und
Güterbahnhofslärm. Alles mischt sich zum pulsierenden gedämpften Lärmpegel. Die
Stadt ist geschmückt mit unzähligen Fahnen mit Hakenkreuzen. Menschenscharen
laufen auf einen großen Platz zu, um sich dort zu versammeln. Eine grell schreiende
heisere Stimme spricht dort von einem Balkon zur jubelnden Menschenmasse.
Spätestens jetzt wird die
Stadt als Weimar erkennbar. Das Goethe- und Schillerdenkmal als Wahrzeichen der
Stadt kommt ins Bild, dann das Säulenportal des Theaters.
Eine Anhöhe wird
angesteuert. Ziel ist die KZ-Gedenkstätte Buchenwald. Das Denkmal mit dem
Glockenturm wird „durchflogen“.
Ein drittes Mal ertönt die
Glocke, aber in betäubender Lautstärke. Es ist ein Klang, den man nicht als
schön, als wohltuend, empfinden kann. Ein Klang, der in seiner metallisch
blechernen aber volltönenden leichten Dissonanz, mit seiner äußerst sensibel
zusammengesetzt scheinenden Mischung von Obertönen, die Ahnung von
Schrecklichstem aufkeimen lässt.
Panthyrann hat sich
ebenfalls zur Treppe bewegt und geht mit Mephistopheles gemeinsam die letzten
Stufen zur Bühne hinauf. Das Hören des Glockenklanges hat beide äußerst nervös
gemacht Sie halten sich die Ohren mit beiden Händen zu.
Das Tor mit der Inschrift
JEDEM DAS SEINE wird durchflogen, der Exerzierplatz mit einer unüberschaubare
Menge von Häftlingen in blau weiß gestreiften Anzügen ist zum Appell
aufmarschiert. Winter 1943. Gelblich düstere Nebelschwaden aus dem Schornstein
des Krematoriums ziehen in den Himmel.
Flügelschlagen wird hörbar.
Über den hintersten Reihen des Zuschauerraumes schwebt der Vogel Corvus
Mysticus in das Theater. Er landet während der Reise zum größten Grauen, das
Menschheitsgeschichte geschrieben hat, auf der Vorderbühne und lässt die Mater
Agape entsteigen. Die geht übergroß mit beschwörend ausgestrecktem Arm auf
Mephistopheles und Panthyrann zu, ohne dass diese die Erscheinung wahrnehmen können. Aber beide werden von ihr
zu Boden gezwungen und beginnen, sich vor Scham, vor Wut und Ekel auf dem Boden
zu wälzen.
Während der nachfolgenden
Filmszenen müssen sie erkennen, was Menschen mit ihrer Duldung, in ihrem Namen,
im Namen von Ideologien und Religionen anzurichten imstande sind. Sie müssen
erfahren, dass die ihnen zugedachte Macht unbedeutend und ohne Sinn ist. Sie
erkennen ihre Unbedeutendheit gegenüber der Menschheit, deren Bewusstsein
krank, deren Machtbesessenheit jede Menschenwürde mit Verachtung straft. Beide
verzweifeln an dieser Entwicklung. Sie demonstrieren das in ihrer Mimik, in
ihrer Gestik. Sie toben, bekämpfen sich, sie weinen gemeinsam.
Eine Ideologie hat sich wieder
einmal verselbständigt und sich von allem, was dem Menschen bisher wert und
heilig war, getrennt. Alles, was an wahren Werten aufgebaut wurde, ist in einen
Sumpf von Hass und Vernichtung, von blinder Wut gestoßen. Mater Agape steht
während der nachfolgenden Filmszenen bewegungslos am Bühnenrand, weiterhin
Mephistopheles und Panthyrann hypnotisierend, so dass diese wiederholt in Panik
geraten und zornerfüllt aufeinander losgehen, um sich schlagen auf dem Boden
wälzen. Der Vogel Corvus Mysticus
schwebt hoch unter der Theaterdecke.
Filmszenen aus
Originaldokumentationen:
Zahllose Viehwaggons, aus
denen sich die Hände der Gefangenen durch die Gitterstäbe ins Freie strecken. Das
Ziel ist das Vernichtungslager Auschwitz. In langen Reihen werden Menschen wie
Vieh von den Waggons in die Lager getrieben, von Hunden gehetzt. Es werden
grauenvolle Szenen eingeblendet.
Mephistopheles und Panthyrann sind wieder ruhig geworden und
sehen entsetzt zu. Mephistopheles taumelt vor Entsetzen, stützt sich auf
Panthyrann und übergibt sich. Beide fliehen vor den letzten Bildern zurück in
das Krankenzimmer und zerren Faust in die Höhe, rütteln an ihm herum, werfen
ihn zurück in die Kissen. Panthyrann ist derart hysterisch geworden, dass er
auf das Bett steigt und sich auf Fausts Brust kniet. Als würde Faust
verantwortlich sein für das, was ihnen der Almanach vorgeführt hat über die
Entgleisung menschlichen Geistes in einer Zeit, in der man von „Aufklärung“
schon lange nicht mehr redet. Aber Faust bleibt bewusstlos. Alles Bemühen war
auch dieses Mal umsonst gewesen.
Mater Agape steht
regungslos an der Bühnenrampe. Auch sie ist am Ende ihrer Akzeptanz gegenüber der
Menschheit. Sie fällt auf die Knie und verbirgt ihr maskiertes Gesicht sich zum
Boden krümmend mit den Händen. Es ist das einzige Mal während der gesamten
Aufführung, dass Mater Agape eine menschliche Gefühlsregung zeigt. Der Vogel
Corvus Mystcus schwebt herab, Mater Agape steigt in sein Gefieder und beide
schweben nicht zurück sondern verschwinden in der Tiefe der Bühne.
Wie ein Abgesang erklingt
wieder aus weiter Ferne die Glocke von Buchenwald, dem Ausgangspunkt der Reise.
Langsam schließt sich der
Vorhang.