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Faust 2015 > Ebene 25.4 4.Satz requiem
4. Satz     Requiem / Die Glocke von Buchenwald
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Panthyrann zeichnet verantwortlich für die Themenwahl des letzten Versuches.
Ein matter gedämpfter Glockenklang aus weiter Ferne des Bühnenhintergrundes. Der Ton vervielfältigt sich, wechselt seine Richtung, kommt aus allen Richtungen in den Zuschauerraum bzw. aus ihm heraus. Hier helfen die unter den Zuschauersitzen installierten Lautsprecher. Der Glockenklang steht langsam verhallend im Raum, verschwindet in eine nachtönende Stille.
Mephistopheles blickt auf, nicht erschrocken aber furchtbare Ereignisse ahnend. Er steigt die ersten Stufen der Treppe, die vom Krankenzimmer zur Bühne führt, empor und blickt in das undurchdringliche Grau. Die Glocke ertönt aufs Neue, lauter, bestimmender.
Er streicht sich über die Stirn, als müsste er einen aus allen Poren und Haarwurzeln hervorquellenden kalten Schweiß abwischen. Seine Mimik lässt aufkommende Scham erkennen.
Im Mittelpunkt der Projektionsleinwand entwickeln sich Bilder, die größer werden und damit den Eindruck vermitteln, dass sich das Theaterpublikum innerhalb weniger Sekunden in die gezeigten Bilder hineinbewegt. Eine Stadt kommt näher. In ihr lebt, brodelt und gärt es. Menschen hasten durch Straßen. Stadtgeräusche, Kreischen bremsender Fahrzeuge, Lautsprecheransagen, das Getöse fahrender Eisenbahnen und Güterbahnhofslärm. Alles mischt sich zum pulsierenden gedämpften Lärmpegel. Die Stadt ist geschmückt mit unzähligen Fahnen mit Hakenkreuzen. Menschenscharen laufen auf einen großen Platz zu, um sich dort zu versammeln. Eine grell schreiende heisere Stimme spricht dort von einem Balkon zur jubelnden Menschenmasse.
Spätestens jetzt wird die Stadt als Weimar erkennbar. Das Goethe- und Schillerdenkmal als Wahrzeichen der Stadt kommt ins Bild, dann das Säulenportal des Theaters.
Eine Anhöhe wird angesteuert. Ziel ist die KZ-Gedenkstätte Buchenwald. Das Denkmal mit dem Glockenturm wird „durchflogen“.
Ein drittes Mal ertönt die Glocke, aber in betäubender Lautstärke. Es ist ein Klang, den man nicht als schön, als wohltuend, empfinden kann. Ein Klang, der in seiner metallisch blechernen aber volltönenden leichten Dissonanz, mit seiner äußerst sensibel zusammengesetzt scheinenden Mischung von Obertönen, die Ahnung von Schrecklichstem aufkeimen lässt.
Panthyrann hat sich ebenfalls zur Treppe bewegt und geht mit Mephistopheles gemeinsam die letzten Stufen zur Bühne hinauf. Das Hören des Glockenklanges hat beide äußerst nervös gemacht Sie halten sich die Ohren mit beiden Händen zu.
Das Tor mit der Inschrift JEDEM DAS SEINE wird durchflogen, der Exerzierplatz mit einer unüberschaubare Menge von Häftlingen in blau weiß gestreiften Anzügen ist zum Appell aufmarschiert. Winter 1943. Gelblich düstere Nebelschwaden aus dem Schornstein des Krematoriums ziehen in den Himmel.
Flügelschlagen wird hörbar. Über den hintersten Reihen des Zuschauerraumes schwebt der Vogel Corvus Mysticus in das Theater. Er landet während der Reise zum größten Grauen, das Menschheitsgeschichte geschrieben hat, auf der Vorderbühne und lässt die Mater Agape entsteigen. Die geht übergroß mit beschwörend ausgestrecktem Arm auf Mephistopheles und Panthyrann zu, ohne dass diese die Erscheinung  wahrnehmen können. Aber beide werden von ihr zu Boden gezwungen und beginnen, sich vor Scham, vor Wut und Ekel auf dem Boden zu wälzen.
Während der nachfolgenden Filmszenen müssen sie erkennen, was Menschen mit ihrer Duldung, in ihrem Namen, im Namen von Ideologien und Religionen anzurichten imstande sind. Sie müssen erfahren, dass die ihnen zugedachte Macht unbedeutend und ohne Sinn ist. Sie erkennen ihre Unbedeutendheit gegenüber der Menschheit, deren Bewusstsein krank, deren Machtbesessenheit jede Menschenwürde mit Verachtung straft. Beide verzweifeln an dieser Entwicklung. Sie demonstrieren das in ihrer Mimik, in ihrer Gestik. Sie toben, bekämpfen sich, sie weinen gemeinsam.
Eine Ideologie hat sich wieder einmal verselbständigt und sich von allem, was dem Menschen bisher wert und heilig war, getrennt. Alles, was an wahren Werten aufgebaut wurde, ist in einen Sumpf von Hass und Vernichtung, von blinder Wut gestoßen. Mater Agape steht während der nachfolgenden Filmszenen bewegungslos am Bühnenrand, weiterhin Mephistopheles und Panthyrann hypnotisierend, so dass diese wiederholt in Panik geraten und zornerfüllt aufeinander losgehen, um sich schlagen auf dem Boden wälzen. Der Vogel Corvus Mysticus  schwebt hoch unter der Theaterdecke.
Filmszenen aus Originaldokumentationen:
Zahllose Viehwaggons, aus denen sich die Hände der Gefangenen durch die Gitterstäbe ins Freie strecken. Das Ziel ist das Vernichtungslager Auschwitz. In langen Reihen werden Menschen wie Vieh von den Waggons in die Lager getrieben, von Hunden gehetzt. Es werden grauenvolle Szenen eingeblendet.
Mephistopheles und  Panthyrann sind wieder ruhig geworden und sehen entsetzt zu. Mephistopheles taumelt vor Entsetzen, stützt sich auf Panthyrann und übergibt sich. Beide fliehen vor den letzten Bildern zurück in das Krankenzimmer und zerren Faust in die Höhe, rütteln an ihm herum, werfen ihn zurück in die Kissen. Panthyrann ist derart hysterisch geworden, dass er auf das Bett steigt und sich auf Fausts Brust kniet. Als würde Faust verantwortlich sein für das, was ihnen der Almanach vorgeführt hat über die Entgleisung menschlichen Geistes in einer Zeit, in der man von „Aufklärung“ schon lange nicht mehr redet. Aber Faust bleibt bewusstlos. Alles Bemühen war auch dieses Mal umsonst gewesen.
Mater Agape steht regungslos an der Bühnenrampe. Auch sie ist am Ende ihrer Akzeptanz gegenüber der Menschheit. Sie fällt auf die Knie und verbirgt ihr maskiertes Gesicht sich zum Boden krümmend mit den Händen. Es ist das einzige Mal während der gesamten Aufführung, dass Mater Agape eine menschliche Gefühlsregung zeigt. Der Vogel Corvus Mystcus schwebt herab, Mater Agape steigt in sein Gefieder und beide schweben nicht zurück sondern verschwinden in der Tiefe der Bühne.
Wie ein Abgesang erklingt wieder aus weiter Ferne die Glocke von Buchenwald, dem Ausgangspunkt der Reise.
Langsam schließt sich der Vorhang.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
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