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Faust 2015 > Ebene 50 Philemon und Baucis
50 Philemon und Baucis
 
 
Mit diesem Bild wird eine neue Phase des gesamten Dramas "Faust" eingeleitet. Allein der Wechsel des Geschehens vom wüsten Kriegsgetümmel in die intime Zweisamkeit eines sehr alten Ehepaares ist ein großer Kontrast.
Die Szene um Philemon und Baucis ist eine der Schlüsselszenen des gesamten Faust. Das alte Paar symbolisiert die schlichte Einfachheit, die Güte, die wohltuende Bereitschaft, zuzuhören, zu helfen. Das Paar verströmt die Gnade, die eine Margarethe vor dem Untergang hätte retten können. Aber auch die Gestalt des namenlosen Wanderers ist von ähnlichem Charakter. Dankbarkeit für längst vergangene, doch nicht vergessene Hilfe, verlangt ihn nach Rückkehr und Wiedersehen in der Hoffnung, diese beiden schon damals Alten noch lebend vorzufinden. Die Szene wurde nur in wenigen Details gekürzt. Hier ist nichts Unwesentliches enthalten. Jedes Wort ist wert, gesprochen zu  werden.
Die Szenen „ 50 Philemon und Baucis, „51 Das neue Land“ und „52 Tiefe Nacht“ werden ohne Wechsel des Bühnenaufbaus gespielt. Die riesige Staumauer ist fertig gestellt und eine neue Stadt ist im neuen Land errichtet worden. Die Spielflächen (Podeste), auf denen sich der „Lindenraum“ und der „Palast“ Fausts  befinden, werden nur durch spezifische Versatzstücke herab gelassen, so dass die räumliche Entfernung dieser beiden Spielflächen stets klar erkennbar ist. Der Turm des Lynkeus steht, sofern er benötigt wird, im Stadtzentrum.
 
Unter der Linde steht eine einfache Bank, auf der Philemon und Baucis sitzen. Der alte Mann ist, den Kopf auf Baucis´ Schulter liegend, eingeschlafen. Während der Eingangsmusik (Motiv aus einer Mahler-Sinfonie) kommt der Wanderer von links zu Philemon und Baucis.
Wanderer   
Ja! Sie sind`s, die dunklen Linden,
Dort, in ihres Alters Kraft,
Und ich soll sie wiederfinden
Nach so langer Wanderschaft!
Ist es doch die alte Stelle,
Jene Hütte, die mich barg,
Als die sturmerregte Welle
Mich an jene Dünen warf!
Meine Wirte möcht ich segnen,
Hilfsbereit, ein wack`res Paar,
Das, um heut mir zu begegnen,
Alt schon jener Tage war,
Ach, das waren fromme Leute!
 
Er steht vor der Bank, sieht die alte Frau an, macht eine leichte Verbeugung und lässt sich, seine Beherrschung vor Rührung vergessend, vor ihr auf die Knie fallen, nimmt ihre Hände und redet unter Tränen der Rührung.
 
Wanderer   
Seid gegrüßt,
Wenn, gastfreundlich, auch noch heute
Ihr des Wohltuns Glück genießt!
 
Baucis erkennt den Mann nicht, ist aber nicht erschrocken. Sie reagiert, als hätte sie ihn erwartet, als wäre es etwas Alltägliches in ihrem Leben, Fremde zu begrüßen. Ein Mensch wie diese Frau strahlt nicht nur eine absolute Stille aus. Sie ist diese Stille. Sie wartet demütig, geduldig, dankbar, bis die ihr zugedachten Tage weniger und weniger werden. Jeden dieser Tage erlebt sie mit besonderer Freude und ist imstande, den Besuch eines Fremden ebenso zu  schätzen wie das Aufblühen einer Blume in ihrem Garten oder das Bewusstsein, die frische kühle Abendluft in ihre Lungen einströmen zu lassen.
Nur eine einzige Sorge bedrückt sie. Der schlummernde Mann neben ihr braucht sie und sie hat Angst, dass sie ihn allein lassen muss, wenn sie als erste von dieser Welt abberufen werden sollte. Das Elend des plötzlichen Alleinseins möchte sie dem Mann, mit dem sie so viele Jahrzehnte gemeinsam in liebevoller Zweisamkeit verbracht hat, ersparen. Ihr größter nicht in Worten aussprechbarer Wunsch ist, diesen Lieben überleben zu dürfen, ihm nach seinem letzten Atemzug über die Augen zu streichen, ihm ein letztes Mal zum Abschied auf die Stirn zu küssen. Wie gern würde sie ihm dann, Tage oder Wochen später, folgen.
Leicht streicht sie mit ihrer Hand über seinen auf ihrem Oberschenkel ruhende Hand. Er nimmt diese Berührung mit einem tiefen Durchatmen dankend zur Kenntnis. Zum Angekommenen spricht sie leise:
 
Baucis
Leise!  leise!
Ruhe! Lass den Gatten ruhn!
Langer Schlaf verleiht dem Greise
Kurzen Wachens rasches Tun.
 
Wanderer   
Sage Mutter! bist du`s eben?
Meinen Dank noch zu empfahn,
Was du für des Jünglings Leben
Mit dem Gatten einst getan?
Bist du Baucis, die geschäftig
Halb erstorb`nen Mund erquickt?
 
Erst etwas ungläubig, dann mit immer konkreter werdenden Erinnerungen mustert sie den Fremden und erkennt langsam den einst Hilfebedürftigen wieder. Sie öffnet die Lippen und ein strahlendes Lächeln lässt eine unerschütterliche Seelentiefe erkennen. Beide schauen sich in die Augen und es bedarf keiner Worte mehr, die Freude des Wiedersehens unter diesen Umständen zu kommentieren.
Währenddessen ist Philemon aufgewacht, erhebt langsam den Kopf und mustert ebenfalls, aber überraschter als zuvor Baucis, den Fremden.  Der Fremde wendet sich sofort dem Alten zu und spricht zu ihm mit der Vorsicht, ihn ja nicht zu erschrecken.
 
Wanderer   
Du, Philemon, der so kräftig
Meinen Schatz der Flut entrückt?
Jenes grausen Abenteuers
Lösung war euch anvertraut.
 
Während der letzten Worte hat sich der Fremde erhoben, blickt in die Ferne und versucht, die Umgebung wieder zu erkennen.
 
Wanderer   
Und nun lasst hervor mich treten,
Schau`n das grenzenlose Meer!
Lasst mich knien, lasst mich beten!
Mich bedrängt die Brust sosehr. 
 
Er sieht kopfschüttelnd die Stadt unter sich, den Damm usw. Philemon hat sehr schnell erkannt, dass der Schiffbrüchige zurückgekommen ist. Auch seine Freude über das Wiedersehen ist sehr groß. War es doch damals wunderbar mit dem Jüngling, der sich ihnen wie ein Sohn verband. Das Vertrauen, mit dem er ihnen beiden begegnete, verband sie mit großer Dankbarkeit.
Philemon ist realistischer als Baucis. Er kann und will sich mit den landschaftlichen Umwälzungen nicht abfinden, denn er sieht die großen Gefahren für die Menschen, die in der neuen Stadt wohnen.
Hinzu kommt die wiederholte Bitte, die mittlerweile in eine Art Forderung mündete, in ihrem Alter das angestammte Häuschen unweit der einsam auf einem Hügel stehenden kleinen Kapelle zu verlassen, um Platz zu machen für die immer mehr ausufernden Pläne des Herrn. Philemon erkennt in der Reaktion des Fremden auf den riesigen Damm sofort einen Verbündeten, dem er seine Zukunftssorgen mitteilen möchte. Seiner Frau ruft er zu:
 
Philemon
Eile nur, den Tisch zu decken,
Wo`s im Gärtchen munter blüht.
Lass ihn rennen, ihn erschrecken,
Denn er glaubt nicht, was er sieht.
 
Die nächsten Worte ruft er dem Fremden nach, um ihn mit allem Nachdruck auf die Umwälzungen hinzuweisen.
 
Philemon
Kluger Herren kühne Knechte
Gruben Gräben, dämmten ein,
Schmälerten des Meeres Rechte,
Herrn an seiner Statt zu sein.
 
Ja, was hier zu sehen ist, scheint kaum als Menschenwerk möglich zu sein. Gigantisch ist die Welt dieser einstigen Idylle verändert worden. Mit Geisterhänden scheinen hier Menschen in die frei Natur eingegriffen zu haben mit dem eisernen Willen, diese zu tyrannisieren, sie ihrem Willen entsprechend umzuformen, sie sich untertan zu machen wie vorzeiten freie Menschen zu Sklaven gemacht wurden. Auch der Wanderer sieht, dass Ergebnis und Sinn dieser Revolution fragwürdig sein müssen. Er wendet sich kopfschüttelnd und geht langsam, enttäuscht zurück zu der Hütte, vor der Philemon unbeweglich auf der Bank sitzt. Und weiter geht die langsame, jedes Wort einzeln betonende Rede des Alten:
 
Philemon
Komm nun aber und genieße,
Denn die Sonnen scheidet bald. -
Dort im Fernsten ziehen Segel,
Suchen nächtlich sichern Port.
Kennen doch ihr Nest die Vögel;
Denn jetzt ist der Hafen dort.
So erblickst du in der Weite
Erst des Meeres blauen Saum,
Rechts und links, in aller Breite,
Dichtgedrängt bewohnten Raum.
 
Währenddessen ist Baucis mit einem Tablett, auf dem einige Tassen und Teller sowie Brot und Milch stehen, aus der Hütte zurückgekommen. Während sie die Sachen auf einem kleinen Tischchen abstellt, sieht sie den Fremden an, erkennt sein kummervolles Gesicht und fragt:
 
Baucis
Bleibst du stumm? Und keinen Bissen
Bringst du zum verlechzten Mund?
 
Dem Wanderer fehlen die Worte, denn er ist vom Gesehenen noch derart überwältigt, dass Philemon für ihn einspringt:
 
Philemon
Möcht er doch vom Wunder wissen;
Sprichst so gerne, tu`s ihm kund.
 
Beide versuchen in einer Wechselrede dem Fremden die neue Situation zu erklären:
 
Baucis
Wohl! ein Wunder ist`s gewesen!
Lässt mich heute nicht in Ruh;
Denn es ging das ganze Wesen
Nicht mit rechten Dingen zu.
 
Philemon
Kann der Kaiser sich versünd`gen,
Der das Ufer ihm verliehn?
Nicht entfernt von unseren Dünen
Ward der erste Fuß gefasst,
Zelte, Hütten! - Doch im Grünen
Richtet bald sich ein Palast.
 
Baucis
Tags umsonst die Knechte lärmten,
Hack und Schaufel, Schlag um Schlag;
Wo die Flämmchen nächtig schwärmten,
Stand ein Damm den andern Tag.
Menschenopfer mussten bluten,
Nachts erscholl des Jammers Qual;
Meerab flossen Feuergluten,
Morgens war es ein Kanal.
Gottlos ist er, ihn gelüstet
Unsre Hütte, unser Hain;
Wie er sich als Nachbar brüstet,
Soll man untertänig sein.
 
Philemon
Hat er uns doch angeboten
Schöner Gut im neuen Land!
 
Baucis
Traue nicht dem Wasserboden,
Halt auf deiner Höhe stand!
 
Der Fremde hörte stumm den Erzählungen zu, mitunter teilnahmsvoll den Kopf schüttelnd. Was gesagt werden sollte, ist nun gesagt und Philemon schaut zum Himmel als möchte er feststellen, dass dieser Himmel mit seinen Sternen, dem Mond und der Sonne das einzige ist, über das der neue machtbesessenen Herr keine Gewalt hat – zumindest noch nicht. Und sollte er sie einst erhalten, so werden sie beide dies hoffentlich nicht erleben müssen.
 
 
Philemon
Lasst uns zur Kapelle treten,
Letzten Sonnenblick zu schaun!
Lasst uns läuten, knieen, beten
Und dem alten Gott vertraun!
 
Phlimeon versucht, sich von der Bank zu erheben, hat Mühe, auf die Beine zu kommen. Der Wanderer kommt ihm zu Hilfe und fasst den alten Mann behutsam unter die Arme. Er stützt den Alten mit seinem rechten Arm und mit dem linken stützt er Baucis. So gehen sie langsam, Philemon in sehr gebückter mit schlurfenden Füßen zu dritt an der Hütte vorbei zu der Kapelle. 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
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